Sigmund Gossembrot / 6

Das komplizierte Labyrinth

Auf Folio 54 r, schliesslich, befindet sich das in Abbildung 1 gezeigte komplizierte Labyrinth (siehe auch: Verwandte Beiträge, unten). In seinem Zentrum steht: „laborintus melior inter priores aquia magis errabunda inducens et educens“ – dieses Labyrinth ist besser als die früheren, da es mehr in die Irre weist, hinein- und hinausführend. Kern hält das für Selbstlob (Literatur, unten). Ich denke einfach, dass Gossembrot dieses Labyrinth für sein bestes hielt. Das Labyrinth hat 12 Umgänge und eine unübersichtliche Anordnung der Wendungen des Weges. Die Anzahl Achsen kann nicht einfach festgestellt werden.

Abbildung 1. Das komplizierte Labyrinth auf Folio 54 r

Der Weg tritt unten auf dem ersten (äussersten) Umgang ins Labyrinth ein (Abb. 2). Er macht dann gleich eine Verzweigung, und man kann diesem Umgang in beiden Drehrichtungen (im oder gegen den Uhrzeigersinn) folgen. Von oben zweigt aus dem Umgang wieder ein Wegstück ab. Dieses führt weiter ins Labyrinth hinein. Der äusserste Umgang ist also nicht unikursal, sondern multikursal als Irrgarten angelegt.

Abbildung 2. Der äusserste Umgang

Man kann den äussersten Umgang entfernen (Abb. 3) und erhält dann ein eigenständiges Kernlabyrinth mit 11 Umgängen. Weitere Umgänge aber kann man nicht einfach entfernen, ohne das Kernlabyrinth zu zerstören. Das Kernlabyrinth hat eine klar erkennbare Hauptachse, die nach oben ausgerichtet ist. Es dreht im Uhrzeigersinn.

Abbildung 3. Kernlabyrinth

Für die weitere Untersuchung drehen wir nun in Abb. 4 das Labyrinth so, dass die Hauptachse nach unten zeigt. Nun liegt es in der Form vor, die wir immer als Ausgangsform verwenden. Die Hauptachse (blau eingerahmt) hat genau die gleiche Form wie jene des Labyrinths vom Typ Chartres. Die übrigen Wenden des Wegs liegen verstreut über die oberen ca. 2/3 der Fläche.

Abbildung 4. Hauptachse

Aber angesichts der Form der Hauptachse drängt sich der Verdacht auf, dass auch die übrigen Wendestellen etwas mit dem Typ Chartres zu tun haben könnten. Tatsächlich lassen sich leicht drei Bereiche ausmachen (Abb. 5). Die Wendestellen innerhalb der trapezförmigen Bereiche (rot) können zu Achsen ausgerichtet werden.

Abbildung 5. Nebenachsen

Man muss sie dazu entlang ihren Umgängen verschieben. Zwei Wendestellen (die innersten an der 1. und 2. Nebenachse) liegen schon fast an ihrem richtigen Platz. Dies wird in Abb. 6 gezeigt. Die übrigen müssen stärker verschoben werden. Das wird mit den roten Kreisen und Pfeilen dargestellt. Neu ausgerichtet ergeben sie in der Tat ein Labyrinth vom Typ Chartres.

Abbildung 6. Typ Chartres

Umgekehrt betrachtet kann man also sagen, dass Gossembrot aus dem Labyrinth vom Typ Chartres einen Irrgarten abgeleitet hat. Dazu hat er die regelmässige Ordnung aufgelöst, indem er die Wendestellen aus den Nebenachsen herausgerückt und willkürlich über die Labyrinthfläche verteilt hat. Dann hat er aussen einen weiteren Umgang angefügt und diesem eine mehrdeutige Wegführung gegeben.

Literatur
Kern H. Labyrinthe – Erscheinungsformen und Deutungen 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München: Prestel 1982: S. 204 Abbildungslegende, S. 205, Abb. 244.

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