Das Babylonische Labyrinth

Über die Babylonischen Eingeweidelabyrinthe habe ich schon geschrieben und versucht ihre Verwandtschaft mit dem Labyrinth nachzuweisen. Sie stammen aus mittel- bis neubabylonischer Zeit (etwa 1500 v. Chr. bis 500 v. Chr.).

Es gibt aber noch ältere Labyrinthdarstellungen aus altbabylonischer Zeit (etwa 2000 – 1700 v. Chr.), die ganz anders als die Eingeweidelabyrinthe aussehen und die wir wohl als die Ahnen des Labyrinths betrachten können.

Der schwedische Mathematikhistoriker und Keilschriftexperte Jöran Friberg hat die babylonischen mathematischen Tontafeln der norwegischen Schøyen Collection ausführlich erforscht und 2007 dokumentiert. Er nennt die nachfolgenden Figuren Labyrinthe und versucht dies auch zu begründen.

In der Zeitschrift Caerdroia 42 hat Richard Myers Shelton ausführlich zum Thema geschrieben. Von ihm habe ich auch die meisten Informationen. Hier geht es mir darum zu beschreiben, worin die Verwandtschaft mit dem Labyrinth besteht.

Demnach muss man die nachfolgenden Darstellungen als die bis jetzt ältesten bekannten Labyrinthe betrachten.

Hier ein rechteckiges Labyrinth mit der Bezeichnung MS 3194 in der Schøyen Collection:

Das rechteckige Labyrinth MS 3194

Das rechteckige Labyrinth MS 3194, Quelle: Schøyen Collection

Welchen Zweck diese Figur hatte, wissen wir nicht. Sie könnte wohl philosophischen oder mathematischen Überlegungen gedient haben.

Worin besteht nun die Verwandtschaft mit dem Labyrinth?

Dazu müssen wir wieder genauer hinschauen. Richard Myers Shelton hat die Linien auf der Tontafel einwandfrei rekonstruieren können und so kann ich hier eine farbig angelegte Zeichnung der vollständigen Figur präsentieren.

Das rechteckige babylonische Labyrinth

Das rechteckige babylonische Labyrinth

Die dünnen schwarzen Linien begrenzen die Wege. Diese sind also der freie Raum zwischen den Linien. Es gibt zwei offene Zugänge zum Rechteck. Der eine Zugang liegt ungfähr in der Mitte der linken Seite, der andere gegenüber rechts. Der Weg von links ist ocker angelegt, der von rechts grün. Im Zentrum treffen sich die beiden Wege und wechseln die Richtung. Der eine Weg führt gleichsam hinein und der andere heraus.

Es gibt dabei keine Abzweigungen oder Sackgassen. Der ganze, lange, verschlungene Weg muss zurückgelegt werden. Und das ganze Rechteck wird „erschlossen“.

Es ist eine gewisse, aber nicht ganz geglückte Symmetrie in der Linienführung zu erkennen. Die letzten Umgänge um das Zentrum herum erinnern an eine Doppelspirale. Die übrigen Umgänge sind mäanderartig ineinander verschlungen.

Es handelt sich somit um einen eindeutigen, zweifelfreien und zielgerichteten Weg durch eine geschlossene Figur, wie wir es von einem „echten“ Labyrinth kennen.

Dann gibt es noch ein quadratisches Labyrinth mit der Bezeichnung MS 4515. Hier als farbige Zeichnung:

Das quadratische babylonische Labyrinth

Das quadratische babylonische Labyrinth

Vielleicht sollte es eine Stadtdarstellung sein? Wir kennen das ja von anderen Labyrinthen. Mit Toren, Bastionen, Mauern?


Unter den babylonischen Tontafel befindet sich noch eine mit geometrischen Illustrationen. Jöran Friberg bezeichnet sie als mazes (Irrgarten). Das sind sie wohl sicher nicht.

Diese Linien könnte man als labyrinthische Fingerübungen betrachten. Manche sind nur schwer zu rekonstruieren. Friberg und Shelton kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Es gibt zwei Reihen mit je vier Feldern, in denen ein symmetrisch rotierender Weg ohne Anfang und Ende durch vier Sektoren verläuft. Es werden meistens alle Bereiche berührt, manchmal gibt es unerreichbare Stellen. Man ist an die römischen Sektorenlabyrinthe viele Jahrhunderte später erinnert.

Tafel MS 4516

Tafel MS 4516, Quelle: Schøyen Collection

Hier zwei Felder als Zeichnung:

Das erste Feld links oben

Das erste Feld links oben

Das vierte Feld links unten (rekonstruiert)

Das vierte Feld links unten (rekonstruiert)

Deutlich erkennt man die Mäander, die symmetrische Anordnung und den Wegverlauf zwischen den schwarzen Linien.

Sehr viel später finden sich ähnliche Darstellungen auf den Silbermünzen von Knossos:

Swastika-Mäander

Swastika-Mäander auf einer Münze, 431-350 v. Chr. / Quelle: Hermann Kern, Labyrinthe, 1982, Abb. 49

Die richtigen „Zutaten“ für ein Labyrinth, nämlich Mäander und Spirale waren schon in altbabylonischer Zeit bekannt. Die Vorstellung von einem verwirrenden, verschlungenem, jedoch eindeutigem Weg in einem begrenztem Raum mit rhythmischen Bewegungsänderungen kann von da ausgegangen sein.

Wir können also den Zeitpunkt für den Ursprung des Labyrinths um einige hundert Jahre  nach hinten schieben auf die Zeit um 1800 v. Chr.. Es war zunächst die Idee von einem Durchgangslabyrinth. Die Weiterentwicklung geschah in mittel- bis neubabylonischer Zeit in den Eingeweidelabyrinthen mit ebenfalls noch zwei Zugängen, jedoch eindeutiger Linienführung.

Seit 1200 v. Chr. kennen wir das kretische Labyrinth mit nur einem Zugang und dem Ende des Weges in der Mitte. Man kann das als einen Weg in die Mitte ansehen, während es beim babylonischen Labyrinth ein Weg durch die Mitte ist.

Bis heute geblieben sind Durchgangslabyrinthe im Typ baltisches Rad und im Wunderkreis. Die erkennen wir als echte Labyrinthe an, obwohl sie auch zwei Eingänge haben und nicht in der Mitte enden.

Der Wunderkreis von Kaufbeuren

Der Wunderkreis von Kaufbeuren

Weitere Informationen zu den Babylonischen Labyrinthen finden sich im ausgezeichnetem Artikel von Richard Myers Shelton in Jeff Sawards Caerdroia 42 (März 2014), und in in einem neuen Artikel von ihm in Caerdroia 44 (April 2015) über den Zeidner Wunderkreis in Transilvanien.

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9 Gedanken zu „Das Babylonische Labyrinth

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  6. lieber erwin,
    sehr interessant!
    hier meine ersten gedanken dazu: die wegführung bei 3194 ist gewulstet spiralförmig, bei 4515 ist eine 180° kehrtwende gegeben, bei 4516 ist die struktur: kreuz, rechter winkel u punkt gegeben nur anders dann verbunden als beim urlaby – vielleicht kannst du das farblich kennzeichnen?
    ich seh es wie du: die basis für ein Labyrinth, nämlich mäander und spirale, wendung waren schon in altbabylonischer zeit bekannt! alledings kann ich dir nicht folgen in der sichtweise, dass der weg beim babyl. vorlaby durch das zentrum geht … letzter punkt: wer bitte sind „wir“, welches wir erkennt das baltische rad als labyrinth an? ich bin da streng, es ist eine ur-labyrinth-variante 🙂
    soviel für heute
    ich freu mich auf deine weiteren entdeckungen und recherchen und interpretationen!
    lg
    ilse

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    • Liebe Ilse,
      ich versuche einmal auf deine Fragen und Gedanken einzugehen, wobei ich allerdings wieder Gegenfragen stellen muss, weil sich mir vieles nicht so recht erschließt.
      Wegführung bei MS 3194: Was bitte ist gewulstet? Spiralförmig ist OK:
      Bei MS 4515: Wo bitte ist die 180° Kehrtwende? Bei beiden ist die Wegführung im Zentrum identisch, nämlich doppelspiralförmig.
      Vielleicht als Zwischenbemerkung: Bei beiden gibt es zwei Zugänge (je rechts und links) und bei beiden erfolgt ein Richtungswechsel in der Mitte. Die schwarzen Begrenzungslinien sind möglicherweise zu dünn und schlecht zu erkennen, die Wege in grün und lila wohl zu dominant (sorry, wohl mein Fehler). Bitte ganz genau hinschauen.
      Bei MS 4516 gibt es insgesamt acht Felder, nur zwei habe ich genauer dargestellt. Auf welches bezieht sich deine Bemerkung?
      Da könnte man das wohlbekannte Grundmuster des kretischen Labyrinths hineininterpretieren, aber damit kommt man nicht weiter. Denn die Linien sind ganz anders verbunden.
      Wieso geht der Weg beim von dir so genanntem Vorlaby nicht durch das Zentrum? Er hört da ja nicht auf, wie ich ausführlich erläutert habe, sondern führt hindurch.
      Welches „wir“ erkennt das baltische Rad als Labyrinth an? Alle, die es gebaut haben, es benutzen, es verwenden usw. Schaue bei der TLS oder überall, wo dieser Typ gebaut wurde.
      Wieso soll es eine Urlabyvariante sein? Ein Urlaby gibt es bekanntlich nicht, die Variante ist, dass es auf einem Dreieck beruht, statt auf einem Quadrat.
      Das für heute.
      Ich freue mich auf Antworten.

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